Sonntag, 14. Januar 2018

"Cameraperson" [US '16 | Kirsten Johnson]

Am Anfang ist da eine Straße, dahinter ein weiter, ebener Landschaftstrich. Einige Autos rasen aus dem toten Winkel der Kamera ins Bild gen Horizont. Wie aus dem Nichts schlägt plötzlich ein Blitz ein, der Donner knallt fast synchron. Die Person hinter der Kamera erschreckt, niest zweimal und erschüttert die Kamera. - So klein und trivial diese Szene zunächst auch wirken mag, in ihr drückt sich doch eine ganz profunde Erkenntnis über das Filmemachen aus: Filmemacher und gefilmte Welt stehen immer in einem Verhältnis der Wechselwirkung zueinander. So wie die Kamera aus der Welt hervorgebracht wurde, die sie repräsentiert, und deshalb maßgeblich ihren Einflüssen unterliegt, so wirkt diese auch immer zurück; verändert und verformt das Bild, das wir von der Welt und seinen Bewohnern haben. Die Bilder aus „Cameraperson“ weisen auch immer wieder auf ihre Erschafferin zurück, die seit fünfundzwanzig Jahren als Kamerafrau für Dokumentarfilme den Planeten bereist. Dieser Film seien ihre Memoiren, lässt diese in den Anfangstiteln verlauten. Und doch geht diese wunderschöne Collage persönlicher Erinnerungen weit darüber hinaus. Wenn es im Schnitt heißt „kill your darlings“, dann hat sie diese in ihre Schatzkiste gesperrt und nun vor unser aller Augen geöffnet. Ihre Bilder werfen schlaglichtartig einen Blick in die vielfältigsten Lebensentwürfe und sind doch Bestandteil eines universellen Sinnzusammenhangs. Denn über allem steht die Reflexion der eigenen Rolle: Worin liegt die Verantwortung des Dokumentarfilmers? Wann ist der Eingriff in die Welt geboten, die man doch eigentlich so unberührt wie möglich zu fassen versucht? Wie lässt sich in den Realitäten der Postmoderne noch Bedeutung generieren, wenn jede Wahrheit eine Frage der Perspektive ist? Was ist Wirklichkeit und existiert sie auch absolut? Was verändert die Kamera in der Begegnung mit dem Anderen, was eröffnet sie, was verhindert sie? Johnson macht dem Zuschauer das wertvollste Geschenk von allen, indem sie sich sichtbar macht, hinter der Kamera hervortritt und selbst Teil des Bildes wird. 

8/10

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